Professor Nöhles Essensalltag
Gewundert haben Sie sich schon immer, aber hinterfragt haben Sie es nie: Zu Fisch gibt es immer Zitrone – aber warum nur?
Schon wieder müssen wir in der guten alten Zeit – so in den 50er Jahren – anfangen, in der leider gar nichts besser war. Der Fischdampfer in Bremerhaven nahm Schütteis (neudeutsch „crushed ice) auf, so ca. 20 Tonnen, tuckerte Richtung nördlicher Nordsee und fischte vor sich hin. Die gefangenen Fische wurden an Bord von Hand von den Fischern ausgenommen und in Kisten unter besagtem Schütteis aufbewahrt. Je nach Wetterlage und Fangerfolg kam der Dampfer so nach drei bis vier Wochen nach Bremerhaven zurück, der „frische Fisch“ wurde in den Fischauktionshallen immer noch in den besagten Kisten morgens um sechs Uhr verauktioniert und per LKW immer noch unter Eis zu den Kunden gebracht und landete im Fischgeschäft in der Auslage auf Eis als „fangfrisch“. Ja, so romantisch war das damals – tolle Zeit Jungs, echt, ehrlich!
So, und jetzt betrachten wir diesen Film noch einmal aus etwas anderem Blickwinkel:
Also, der Fisch war locker vier Wochen alt und wurde im günstigsten Falle bei ca. einem Grad Celsius gelagert, wenn denn die Menge an Eis ausreichte und der Fisch ständig und gleichmäßig bedeckt war. Die Folge dieser langen Lagerzeit war ein deutlich beginnender mikrobieller Fischverderb, im Rahmen dessen unter anderem das Fischeiweiß zu den einzelnen Aminosäuren abgebaut wurde. Die Aminosäuren wurden sodann decarboxyliert und es entstanden so genannte biogene Amine, so z. B. aus der Aminosäure Glycin das Methylamin. Und dieses Methylamin – verzeihen Sie den Ausdruck – stinkt entsetzlich nach Fisch. Hinzu kam ein Fettverderb, der dem ganzen noch eine mittelschwer tranige Note verlieh.
Erinnern Sie sich vielleicht noch? Wenn es früher immer freitags Fisch gab, dann stank die ganze Wohnung und bei Mietshäusern das gesamte Haus mindestens zwei Tage lang nach Fisch. Man konnte noch am nächsten Tag an jemandes Kleidung „erriechen“, dass es gestern bei ihm Fisch gab. Doch das war normal, sozusagen „Stand der Technik“.
Damit es nicht ganz so schlimm wurde, servierte man zum Fisch stets Zitrone. Was passierte jetzt? Die oben genannten Amine sind alkalisch und leicht flüchtig. Gibt man eine Säure hinzu, also hier die Zitronensäure aus der Zitrone, so neutralisierte diese die stark riechenden, freien Amine zu ihren Salzen und so wurde der Fisch wieder genießbar, weil die Salze der Amine nicht flüchtig sind und folglich nicht riechen.
Das war der biochemische Trick unserer Väter und Mütter.
Und wie ist es heute? Der Trawler fährt heute nicht mehr von Bremerhaven, sondern vom dänischen Hirtshals immer noch in die nördliche Nordsee, nimmt kein Eis mehr auf und fängt so vor sich hin. Doch kaum ist der Fang an Deck, wandern die Fische in die Filetiermaschine unter Deck, werden wenige Minuten (!) nach dem Fang filetiert, tiefgefroren, verpackt und lagern dann tiefgefroren in den Laderäumen bis zum Einlaufen in den Hafen. Der zu Blöcken zwischen 20 und 50 kg gefrorene Fisch wird an Land z. B. für Fischstäbchen horizontal und vertikal zersägt, paniert, tiefgefroren in die Endverbraucherpackung abgepackt und landet tiefgefroren im Supermarkt in der Truhe. Absolut keine Chance für mikrobiellen Fischverderb, keine Bildung von Methylamin, kein Fettverderb. Tja, und eben auch nicht mehr dieser typische „Fischgeschmack“.
Ältere Herrschaften unter den Verbrauchern sagen daher heute „Der Fisch schmeckt ja nach gar nichts mehr“. Jüngere Herrschaften würden den Fisch der 50er Jahre dagegen glatt als „vergammelt“ ablehnen – so ändert sich die Welt.
Aber eines ist geblieben: die Zitrone! So kommt es, dass es auch heute immer noch Zitrone zum Fisch gibt, obwohl sie eigentlich aufgrund der viel besseren Fischverarbeitungslogistik gar nicht mehr nötig ist.
Na, wenigstens etwas, das sich aus der guten (?) alten Zeit hinüber gerettet hat.