Professor Nöhles Essensalltag
Neulich in Myanmar.
Myanmar ist ein Entwicklungsland und steht laut IWF (Internationaler Währungsfond) von 182 Ländern gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner an Stelle 162 (Bezugsjahr 2013).
Ich schlendere über den Markt. Die Leute sind außergewöhnlich freundlich und sehen mich mit großen Augen an. Temperatur 32 Grad Celsius, Luftfeuchtigkeit 90 Prozent. Hier gibt es alles, was der Mensch zum Leben braucht. Eine Frau kauft bei einem der Händler ein Huhn. Die Marktfrau greift in einen Bambuskorb, holt ein lebendes Huhn heraus und schlägt den Kopf mit einem Beil ab, was nach unseren Maßstäben ziemlich archaisch aussieht. Dann lässt sie es auf der Straße ausbluten, überbrüht es mit heißem Wasser und rupft dem Huhn die Federn aus. Derweil geht die Kundin erst einmal weiter und kauft andere Waren. Das Huhn wird mit stehendem Wasser gewaschen und ausgenommen. Die bereits wartenden Katzen reißen sich um die Schlachtnebenprodukte (Leber, Herz, Magen – was ein Wirbeltier so alles hat). Das fertige Huhn landet in einer Aluschale in der Sonne. Es sind immer noch 32 Grad Celsius. Nach rund einer halben Stunde kommt die Kundin vorbei und nimmt das schöne Huhn in einer Plastiktüte mit. Zuhause sind es in der Wohnung in etwa 25 Grad Celsius.
So, Ihr mikrobiologischer Rechner im Hinterkopf ist auch gerade angesprungen? Wenn unmittelbar nach dem Schlachten auf offener Straße auch „nur“ eine Salmonelle pro Gramm auf dem Huhn unter Marktbedingungen vorhanden war und das Huhn bei 32 Grad Celsius in der Sonne liegt, haben wir die optimalen Vermehrungsbedingungen für Salmonellen. Die Reproduktionszeit beträgt rund 20 Minuten. Nach den ersten 20 Minuten haben wir also zwei Salmonellen pro Gramm; zum Abholzeitpunkt der Kundin (40 Minuten später) sind es vier Salmonellen je Gramm. Zuhause werden es wohl acht Salmonellen pro Gramm sein – und so weiter. Und Sie rechnen sich gerade aus, dass am nächsten Tag hier alle an Salmonellose gestorben sein müssen. Sind sie aber nicht.
Vom Markt direkt in den Wok
Kühlschrank auf dem Markt?
Wozu denn, das Huhn lebt doch noch.
Kühlschrank zuhause?
Entschuldigung, woher soll der Strom dafür denn bitteschön kommen?
Aufbewahren von übrig gebliebenen Speisen im Kühlschrank?
Hören Sie mal, ein Kühlschrank kostet hier 300 US-Dollar (USD), selbst wenn der Strom dafür da wäre und bezahlt werden könnte, kann sich der Normalverdiener mit einem Jahreseinkommen von unter 1.000 USD keinen Kühlschrank leisten.
Und übrig gebliebene Speisen aufbewahren?
Sagen Sie mal, wie kommen Sie darauf, dass hier etwas übrig bleibt? Es wird gegessen, bis alles aufgegessen ist – was dachten Sie denn? Und am nächsten Tag wird etwas Neues auf dem Markt gekauft, jeden Tag, auch sonntags – oder wollen Sie am Sonntag hungern?
So, und warum sind jetzt nicht alle Myanmare an Salmonellose verstorben?
Unsere Kundin zerteilt das Huhn nach Ankunft zuhause ohne Verzug mit einem Hackebeil (gechopped heißt das dann, kennen Sie von Ihrem Thailand-Urlaub). Und das ganze landet neben allerlei frischen Gemüsen vom gleichen Markt in einer Art Wok und wird mittels heißen Öls unter ständigem Rühren erhitzt (stir fried nennt sich das, kennen Sie auch von Ihrem letzten Thailand-Urlaub). Danach wird das Ganze sofort im Mehrgenerationenhaushalt verzehrt – und es bleibt nichts übrig. Anstatt der Myanmare sind die 8, 16, 32 oder vielleicht auch 64 Salmonellen pro Gramm alle in der Wok verstorben und da hier nichts aufbewahrt wird, kann auch nichts vor sich hin gammeln. Fertig ist die food safety chain.
Na also, geht doch. Alles ohne Kühlkette, ohne Strom, ohne Mindesthaltbarkeitsdatum und ohne industrielle Fleischerzeugung – hierzulande auch „Massentierhaltung“ genannt! In Myanmar herrscht das Gesetz der Natur und sonst nichts! Und wahrscheinlich ist hier auch alles „irgendwie Bio“.
Do It Yourself-Experiment
Ja, gleich morgen früh gehen Sie zum Bauern, den Sie ganz bestimmt persönlich kennen (denn auf deutschen Märkten gibt es keine lebenden Hühner), kaufen sich ein lebendes Huhn (als Transportbehälter empfehle ich einen kunstvoll geflochtenen Bambuskorb, ist ganz leicht), fahren es in Ihrem Auto nach Hause (und danach das Auto zur Innenreinigung), schlagen dem Huhn auf dem Balkon den Kopf ab (machen Sie das bitte nicht in Ihrer Küche wegen dieser Blutspritzer überall danach), lassen es ausbluten (breite Schale vorher bereit stellen, Gummistiefel an und lange Gummischürze anziehen), überbrühen es (fünf Liter kochendes Wasser vorrätig halten), rupfen es (am besten auch auf dem Balkon, auf der Terrasse oder noch besser hinten rechts im Garten, das ergibt nämlich eine ziemliche „Sauerei“) und nehmen es dann aus. Wie man das fachgerecht macht, werden Sie als aufgeklärter Verbraucher ja wohl wissen und im Übrigen hatten Ihre Vorfahren auf dem Lande ja auch Hühner. Wenn Sie schnell sind (und das sind Sie ja), ist das Huhn nach 90 Minuten bratfertig und Ihr Arbeitsplatz wieder sauber (Balkon schrubben nicht vergessen). Sie stopfen das Huhn schön mit Apfel, Nuss und Mandelkern aus und schieben es in den Ofen – zwischendurch bitte immer mit dem Fleischsaft übergießen, damit die Haut schön braun wird. Und was Sie mit den Hühnerfüßen, dem Hals, den Innereien und eben mit allem, das nicht „Brust“, „Flügel“ und „Bein“ heißt, machen wollen, haben Sie sich sicherlich auch schon überlegt. Und denken Sie daran, Sie haben in Ihrem Experimentalhaushalt keinen Kühlschrank, alles wird aufgegessen durch Ihren Single- oder maximalen Dreipersonenhaushalt.
Wie jetzt, Sie haben plötzlich gar keine Zeit, in der Woche zum Bauern zu fahren, weil Sie arbeiten (müssen)? Und Sie wollen sich das „Theater“ mit dem Hühnerschlachten, Rupfen und Ausnehmen in Ihrer tollen italienischen Arc Linea Küche für 35.000 Euro auch nicht antun? Und wohin mit den Hühnerinnereien wissen Sie auch nicht? Und Ihre Katze frisst nur 3-Gänge-Gourmetmenüs aus der Aluschale? Und überall diese Federn in der Wohnung?
Ein Hoch auf die Kühltheke
Tja, dann tut es mir Leid für Sie, dann gibt es eben nichts zu essen heute.
Oder Sie gehen eben doch in einen Supermarkt und kaufen sich fertig abgepackte, panierte Hühnerbrust. Das dauert nur 5 Minuten plus 20 Minuten Garzeit in Ihrem Hightech-Umluftofen. Übrig bleibt nur etwas Verpackungsmaterial, das Sie sachgerecht entsorgen. Fertig.
Diese Hühnerbrust in Tüten fällt aber nicht vom Himmel, sondern wird arbeitsteilig über viele Stufen in verschiedenen Betrieben hergestellt, verpackt, gelagert und dann über den Handel deutschland- oder europaweit vertrieben. Das Ganze klappt aber nur unter hygienisch sauberen Bedingungen und eben unter Einhaltung der Kühlkette auf allen Stufen der Erzeugung bis hin zu Ihrem Kühl- oder Gefrierschrank, den Sie tatsächlich besitzen.
Lessons learnt: Kopf ab und alles selber machen – oder eben doch die industrielle Kühlkette!?
See you later – in Indien, Bangladesch, Asien, Südamerika – oder im Supermarkt.