Warum erfährt die Werbung für Lebensmittel so viel Kritik? Werben heißt Geschichten erzählen.
Ein Gastbeitrag von Dirk Radermacher, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Hersteller kulinarischer Lebensmittel e. V.
Die Lebensmittelwerbung erzählt von glücklichen Familien, die sich bei Tisch treffen, von gestrengen Großmüttern, die Gerichte abschmecken, von feschen Bäckerinnen im Dirndl und handfesten Landsknechten, von Konditoren an der Conche und, wenn es ganz zeitgeistig zugehen soll, von attraktiven jungen Männern, die ihre nicht minder attraktiven Partnerinnen mit etwas selbst Zubereitetem überraschen. Was soll das?
Es muss doch möglich sein, zwischen der lächerlichen Geschichte Laborchef-mit-Doktortitel-im-weißen-Kittel-erklärt-Wirkung-neuer-Zahnpasta und den romantisierenden Bildern herkömmlicher Werbespots für Lebensmittel eine Formensprache zu entwickeln, die aussagt, was die heutige von der althergebrachten Lebensmittelherstellung unterscheidet. Ihr Kernsatz könnte lauten: „Vorsprung durch Technik“ – wäre er nicht bereits durch einen Automobilhersteller belegt.
Die Parallelen sind unübersehbar. Die Entwicklung des Automobils und der industriellen Herstellung von Lebensmitteln verläuft weitgehend zeitgleich. Nicolaus August Otto ließ seinen Motor 1876 patentieren, Johann Heinrich Grüneberg erfand 1867 die später mit dem Namen Knorr verbundene Erbswurst, Julius Maggi im Jahr 1886 seine Würze. Aber während die Storyteller der Autoindustrie ihre neuen Modelle inzwischen Skischanzen bezwingen, Schallmauern durchbrechen und von Parkhaus zu Parkhaus springen lassen, verharren die Lebensmittelproduzenten in vorindustrieller Kulisse. Dabei unterscheidet sich heutige Lebensmittelherstellung von der Produktion zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ebenso wie die computergestützte Entwicklung eines neuen PKW vom Zusammenschrauben einer Tin Lizzie.
Der Verweis auf eine gute Reportage über moderne Lebensmittelherstellung bei Galileo exkulpiert das Heidi-Idyll nicht. Gleichwohl hat es seine Berechtigung. Sei es, dass Untersuchungen des Marketings den Wunsch der Verbraucher nach emotionaler Werbung belegen, sei es, dass der durchaus industriekritische Arzt und Journalist Werner Bartens in „Hart, aber fair“ den Fußballer Horst Heldt zitiert, der auf die Frage, woran er glaube, antwortete: „An die fünf lebenswichtigen Bausteine in Nutella“ und damit augenzwinkernd (wenn auch von foodwatch-Gründer Thilo Bode, der sein Geschäftsmodell bedroht sah, sogleich aufs Heftigste widersprochen) darauf verweist, dass wir etwas Selbstbetrug in der Lebensmittelwerbung geradezu genießen: Wir wollen es nicht anders!
Den theoretischen Unterbau für diese These liefert eindrücklich der Agrarwissenschaftler Vinzent Börner: „In einer Gesellschaft, die in einem Ozean aus Technologie, Risiken, Entmystifizierung und undurchschaubaren globalen Zusammenhängen nach Orientierung sucht, kommt der Landwirtschaft damit die Rolle eines letzten Hafens der Gewissheit zu. Die Vereinfachung landwirtschaftlicher Produktion in der gesellschaftlichen Wahrnehmung durch Anwendung eines entsprechend simplen biologischen Modells erlaubt eine Suggestion des Verständnisses über wenigstens diesen Teil der Gesellschaft und damit den Erhalt eines Restbestandes an Kontrolle“.
Was für die Wahrnehmung der Landwirtschaft gilt, dürfte in gleicher Weise für die Lebensmittelherstellung zutreffen.