Professor Nöhles Essensalltag
Nach dem die Frau Bundeskanzlerin letzte Woche wieder einige Kaufverträge deutscher Unternehmen mit China im mehrstelligen Milliardenbereich begleitet hat, wird es Zeit, einmal mehr über China nachzudenken. Die Volksrepublik China ist, nach Frankreich und den USA, der drittgrößte Handelspartner Deutschlands und der zweitgrößte für die EU. Auch immer mehr Lebensmittel, Grundstoffe und Zusatzstoffe, 90% des gesamten Spielzeugs weltweit und fast alles, das im Nonfood-Regal der Discounter liegt, kommen aus dem Reich der Mitte. Irgendwann wird es auch Sie erwischen. Sie fahren als Einkäufer, als QS-Leiter, als Produktentwickler, als Verkäufer, als Verbandsmitglied oder auch als Auditor nach China. Das allerwichtigste: das Essen. Insbesondere, wenn Sie außerhalb der großen Städte auf dem flachen Lande tätig sind – ein Erlebnis, das Sie nicht vergessen werden. Ihr Geschäftspartner will sich natürlich nicht lumpen lassen und fährt für den Gast aus Deutschland auf, was die Küche hergibt. Und das wird sehr viel sein und Sie werden wahrscheinlich nicht ein einziges Lebensmittel erkennen.
Da dürfen Sie nicht unvorbereitet sein!
Die Vorbereitung
Zuhause in Deutschland fangen Sie bitte an, mit Stäbchen zu üben, denn Sie werden im Ansehen Ihres Geschäftspartners in unendliche Tiefen sinken, wenn Sie aus dem porschefahrenden Deutschland kommen (das ist die Auffassung des Durchschnittschinesen über die Deutschen) und nicht einmal mit Stäbchen essen können. Sie beginnen sechs Wochen vor der Abreise schon einmal. Am besten, Sie essen zuhause Ihre Pasta mit Stäbchen. Schon steht Ihnen der Schweiß auf der Stirn – doch da müssen Sie jetzt durch. Und nur so erwerben Sie das notwendige Handwerkszeug.
In China wird Ihr Geschäftspartner Sie rundum betreuen, weil Sie weder lateinische Buchstaben noch arabische Ziffern finden und sich nicht orientieren können. Zum Dinner werden Sie abgeholt.
Die Tischordnung
Sie speisen in einem Séparée an einem großen runden Tisch, der in der Mitte mit einer großen drehbaren Glasplatte ausgestattet ist. Der Tisch ist eingedeckt. Einer der Plätze sieht besonders schön aus und ist mit den chinesischen Nationalfarben rot und gelb ausgestattet. Das ist der für Sie als „Ehrengast“ bestimmte? Nein, leider falsch, dort sitzt der Chef. Warten Sie, bis Sie rechts vom Chef platziert werden und vergessen Sie nicht Ihren Dolmetscher, sonst verstehen Sie nichts. Kaum haben Sie Platz genommen, so treten fünf bis zehn Servicekräfte in rot-schwarzer Seidenkleidung ein und stellen auf die drehbare Glasplatte mindestens 20 Tellerchen mit meist vegetarischen Speisen, die Sie alle noch nie gesehen haben und die auch nichts mit „Ihrem Chinesen“ aus Deutschland gemein haben. Neben Ihnen steht schon eine Schale mit grünem Tee, die unablässig aufgefüllt wird. Und spätestens jetzt müssen Sie damit rechnen, dass Ihre chinesischen Geschäftspartner anfangen, Kette zu rauchen – und zwar ohne Filter. Doch das ertragen Sie einfach, denn Sie wollen ja einen guten Geschäftsabschluss tätigen.
Die Kunst der Stäbchen
Jetzt kommt die Nagelprobe, denn jetzt müssen Sie mit Ihren Stäbchen die Köstlichkeiten von den Tellern von der Glasscheibe in Richtung Ihrer Schüssel „fischen“. Und die Speisen sind oftmals „glitschige“ Algen und andere angemachte Gemüse, die Ihnen wie Spaghetti wieder von den Stäbchen rutschen. Jetzt zeigt sich, ob sie zuhause genügend geübt haben.
Nehmen Sie niemals die Speisen vom Teller auf der Glasscheibe mit den Stäbchen direkt in den Mund – immer erst in Ihrer Schüssel ablegen und dann erneut aufnehmen.
Ohne dass Sie es bemerken, haben Sie plötzlich eine heiße Suppe in der vor Ihnen stehenden Schüssel, die Sie mit dem breiten Löffel von chinesischem Porzellan bitte unter lautem Schlürfen auslöffeln. Vergessen Sie nicht, in SO-Asien ist Schlürfen ein Zeichen, dass es dem Gast schmeckt. Stören Sie sich auch nicht daran, dass Ihnen Ihr Gastgeber plötzlich mit seinen Stäbchen etwas in Ihre Schüssel legt, das Sie unbedingt probieren sollen. Er meint es gut mit Ihnen und das, was er Ihnen vorlegt, ist besonders teuer bzw. besonders selten. Es wird für einen Europäer höchst seltsam schmecken – doch für einen Chinesen in Deutschland wäre es umgekehrt genau so. Bedanken Sie sich höflich und probieren Sie alles durch.
Kaum ist ein Tellerchen auf der drehbaren Glattplatte halb leer, wird es von flinken Händen entfernt und durch einen frisch aufgefüllten Teller ersetzt, denn der Gastgeber will zeigen, dass er wohlhabend ist.
Andere Länder, andere Sitten
Sie werden feststellen, dass sich die Zusammensetzung der Speisen nach dem 25. Tellerchen langsam ändert, von vegetarischen Unscheinbarkeiten geht es langsam zu Seegetier und Fleisch über. Messer zum Schneiden? Nicht nötig. In China wird alles gechopped. Das bedeutet, dass alles in stäbchen- und mundgerechte Teile zerteilt ist, die Sie mit den Stäbchen ohne weitere Bearbeitung zum Munde führen können. Das bedeutet aber auch, dass Sie in jedem Fleischgericht Knochen und Knorpelanteile vorfinden. Während in Europa nur die vom Knochen ausgelösten „Edelteile“ vom Tier verzehrt werden, geht es in China etwas anders zu: alles wird klein gehackt und nahezu alle Teile vom Tier werden verspeist. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie die Wirbelknochen von Gänsehälsen im Fleischgericht finden. Sie lutschen die Wirbel genüsslich und entnehmen den vom Fleische befreiten Wirbelknochen mit dem Stäbchen aus Ihrem Mund (üben, üben!) und legen ihn am Tellerrand ab. Anyhow, Sie werden vom Servicepersonal beobachtet und Ihr Teller wird laufend ausgetauscht.
Tun Sie sich den Gefallen und fragen auf keinen Fall nach Reis. Sie würden völlig ungläubiges Staunen hervorrufen – sind Sie etwa ein Hochstapler und haben gar keine Firma? Wer wohlhabend ist, verzehrt nur „edle Speisen“. Sollten Sie dennoch den Fehler machen und Reis verzehren wollen, so beachten Sie bitte folgende Vorgehensweise. Der servierte „steamed rice“ ist „Klebreis“ und nicht etwa wie bei uns polierter Reis, der in einzelne Reiskörner zerfällt. Sie legen auf die Schüssel mit dem Reis ein wenig Ihres Fleischgerichtes vom zentralen Glasteller, führen die Schüssel zum Munde und schaufeln das ganze mit den Stäbchen, die Sie in V-Form halten, in einer unglaublichen Geschwindigkeit in sich hinein.
Die Sache mit der Kühlkette
Wenn Sie Ihre Lokalität betreten, werden Sie feststellen, dass am Eingang so 30 bis 40 „Aquarien“ mit lebenden Fischen stehen. Wenn Sie das Restaurant verlassen, sind alle Becken leer. Ja, Sie ahnen es schon: Fisch ist in China immer frisch, d.h. lebend! Wenn Sie das Restaurant betreten, suchen Sie sich gleich einen lebenden Fisch aus – und genau den und nicht etwa „irgendeinen“ bekommen Sie dann später am Tisch serviert. Die Chinesen beherrschen ihre supply chain in der Küche perfekt. Eine Kühl- und Gefrierkette wie bei uns gibt es in China durchgehend (noch) nicht. Fisch also immer lebend, Geflügel als Frischgeflügel wird am gleichen Tag geschlachtet und verzehrt.
Das gilt auch für Garnelen. Diese werden lebend (!) auf einen Holzspieß aufgespießt und die Spieße in eine Schale senkrecht eingesteckt. Sie nehmen sich einen Spieß mit einer Garnele, die sich unbedingt noch bewegen muss und legen diese zwecks Garung dann auf einen „hot stone“ oder hängen sie in einen „hot pot“. Bewegt sich die Garnele, ist sie zwangsläufig frisch; bewegt sie sich nicht, ist sie tot und damit potenziell mikrobiologisch bedenklich. So garantieren Ihre chinesischen Partner die food safety auch ohne Kühlkette.
Der Schnaps
Langsam wird der Abend gemütlich, die Luft ist durch den Zigarettenrauch so dick, dass man sie in Scheiben schneiden kann und die immer noch flinken Hände bringen den „Maotai“. Das ist ein chinesischer „Schnaps“ aus Hirse und Weizen, der bis zu 70% Alkohol enthält. Ohne dass Sie es bemerken, steht ein kleines gefülltes Glas neben Ihnen, der Gastgeber hebt an, sagt einige nette Worte über Deutschland, klopft mit dem unteren Rand des Glases auf die runde Glasscheibe des Tisches, hält das Glas in Ihre Richtung und ruft laut „ganbei“, zu Deutsch „das Glas trocknen“. Sie müssen Ihr Glas jetzt leeren, alles andere wäre unhöflich.
Jetzt sind Sie an der Reihe. Die Gläser sind schon lange wieder voll. Sie loben die auf ewig untrennbare deutsch-chinesische Freundschaft und prosten „dem Chef“ (und nur dem!) freundlich mit einem lauten „ganbei“ zu – und trinken wieder auf ex. Dann kommen die ganzen anderen Mitglieder der Delegation an die Reihe, die sich getreu ihres Ranges gegenseitig zuprosten. So geht das dann den ganzen Abend, bis Sie nicht mehr aus den Augen sehen können. Damen dürfen beim Tee bleiben, Herren nicht. Ihre einzige Ausrede ist: „Ich nehme Medikamente, die sich mit Alkohol nicht vertragen“. Zu später Stunde kippen Sie den Schnaps einfach unter den Tisch, merkt keiner. Das ganze ist der einzige Weg zur strategischen Geschäftsanbahnung. Irgendwann kommt dann ein ganz besonderer Teller mit rohen, ganz dünn geschnittenen Hummerschwänzen. Eine Delikatesse zum Preis eines Monatslohnes eines Fabrikarbeiters. Dann sind Sie dem Vertragsabschluss schon recht nahe. Es werden noch viele Abendessen und noch viele „ganbei“ bis zur ersten Vertragsunterschrift vergehen, denn ihr chinesischer Geschäftspartner will sehen, ob er zu Ihnen Vertrauen aufbauen kann. Die Grundätze des Römischen Rechts „(„pacta sunt servanda“ = Verträge sind einzuhalten) sind in China unbekannt (Sie befinden sich bekanntlich in Asien und nicht in Europa) und eine fruchtvolle Geschäftsbeziehung in China entsteht durch langfristige Vertrauensbildung u.a. beim Essen und nicht wie in Deutschland durch Aufbau einer juristisch ausgefeilten Drohkulisse mittels 200seitiger Kaufverträge unter Androhung von Vertragsstrafen bei Nichteinhaltung von Terminen und abschließender Nennung des Gerichtsstandes.
Eines können wir Europäer auf jeden Fall in China lernen: Essen verbindet.