Professor Nöhles Essensalltag
Bei uns gibt es ja alle möglichen Lebensmittel an jeder Ecke preisgünstig zu kaufen. Man könnte auch sagen, der Markt sei gesättigt. Wie kann ich mich da noch vom Rest der Welt absetzen und eine Lücke besetzen, in der nur ich und niemand sonst erfolgreich ist?
Lücken gibt’s da jede Menge wie z.B. die „Bio“-Lebensmittel, die vegetarischen und die veganen Erzeugnisse; dann gibt es da Produkte, die ein “Fair Trade“ Label tragen, diejenigen, die aus einer bestimmten Region kommen und natürlich die mit religiösem Hintergrund spezifizierten Prozesse wie „halal“ und „kosher“ bis hin zu den eher undefinierten Superfoods.
Und dann gibt da aus den USA einen ganz neuen Trend bzw. eine ganz neue Gruppe, die Craft Foods.
Das sind jetzt aber nicht Lebensmittel, die von besonders kräftigen Menschen hergestellt oder verzehrt werden; die Lebensmittel geben auch nicht besonders viel Kraft und es sind und auch nicht etwa die der Firma KRAFT Foods (heute: Mondelez), sondern es sind handwerklich hergestellte Lebensmittel. Ein Craftsman ist bekanntlich ja ein Handwerker.
Meist junge Menschen mit allerlei kreativen Ideen stellen primäre Lebensmittel selbst her (ein eigener Bienenstock in der Stadt ist ja zur Zeit ziemlich hip), kaufen Rohstoffe regional ein, stellen die Produkte vollständig ohne Einschaltung weiterer externer Dienstleister her und vermarkten diese Produkte auch selbst ohne Einschaltung weiterer Händler und nur in ihrer unmittelbaren Region. Deshalb haben Sie diese Produkte auch in Ihrem Supermarkt noch nicht gesehen. Produktion im 100 Tonnen – Maßstab und Vertrieb über den Discounter sind nicht Teil des Geschäftsmodells.
Begonnen hat das Ganze vor einigen Jahren in Brooklyn, Sie wissen schon, dem New Yorker Stadtteil, der noch vor 30 Jahren als „last exit“ galt, in dem die Mieten aber heute höher sind als die im gegenüberliegenden Manhattan. Die Anhänger der Craft Foods wollten weg von ihrer industrialisierten Welt, wollten sehen, fühlen und riechen, was sie essen, woher die Lebensmittel kommen und vor allem wissen, wer sie wie zubereitet hat. Keine anonymen Maschinen in großen Hallen irgendwo, sondern das Gefühl, persönlich dabei zu sein und die Prozesse wirklich zu verstehen. High quality food für ein high quality life. Allerdings, im wahren Leben arbeitet man tagsüber in einem silicon-hightech-Büro und bestellt sich übers Netz für die Mittagspause eben mal von gegenüber ein handwerklich gebackenes Brot mit allerlei Grün aus urban gardening. Ein Unternehmen wirbt mit „farm to table robust menues including appetizers like the Hatch Chile White Bean Hummus, decadent desserts, hearty lunch options such as the antibiotic and hormone-free burgers“. Tja, so sind sie eben, unsere amerikanischen Freunde.
Bei uns in der EU gibt’s übrigens alle Burger, auch die aus industrieller Produktion, grundsätzlich und immer ohne ‚antibiotics’ und auch ohne ‚hormons’.
Aber auch diesseits des Atlantiks gibt es Craft Foods, wie z.B.:
a) schon seit vielen Jahren
- Biere aus lokalen Brauereien, die tatsächlich nur im lokalen Umfeld absetzen
- Schaukäsereien, in denen von Hand im Kupferkessel die Milch gebrannt wird
- Schaubäckereien, in denen zumindest ein Teil der Backwaren tatsächlich von Hand zubereitet wird
- Selbstgemachte Marmeladen auf Wochenmärkten
b) und jetzt nach amerikanischem Vorbild
- Bierbrauereien, die bisher unübliche Bierkompositionen vorstellen
- Handgemachte Weichweizenpasta ähnlich wie in Italien
- Kesselkonserven von Fleischerzeugnissen auf Bauernmärkten
- Natursauerteiggeführtes Roggenschrotbrot aus dem gemauerten Steinofen
- Bergbauernmilch von Höfen, die tatsächlich und registriert in den Bergen liegen
- Heumilch von Kühen, die tatsächlich mit Heu statt mit Silage gefüttert werden
- Einzelne Kaffee Provenienzen, die nicht mit anderen Kaffees gemischt werden
- Fleisch von der Schweinerasse „Bunte Bentheimer“ oder von Galloway-Rindern
So ein bisschen erinnert dieser Trend aus den USA an unsere Slow Food Bewegung in Deutschland, in der die handwerkliche Tradition der Lebensmittelherstellung wieder bewusst gemacht und gelebt werden soll – und die geht bekanntlich langsam.
Bei Lichte betrachtet verbergen sich unter dem kryptischen Begriff Craft Foods aber nichts anderes als eben „einfach“ handwerklich hergestellte Lebensmittel, die es schon immer gab, dann in den letzten 30 Jahren einem industrialisierten Prozess mit hohen Tonnagen und geringen Herstellkosten und niedrigen Endverbraucherpreisen unterzogen wurden und jetzt für eine kleine Zielgruppe mit hoher Kaufkraft und entsprechend hohen Preisen wieder rückentwickelt und dann „neu entdeckt“ werden.
Na gut, jeder esse, was ihm schmeckt.