Im neunten Teil der neuen Staffel unserer EAT IT-Filmreihe erklärt Professor Nöhle, warum die Tatsache, dass kein bzw. kaum Hühnerfleisch in der Hühnersuppe ist, gar kein Skandal ist.
https://www.youtube.com/watch?v=J8Cs_xSAfCI&t=1s
Den Artikel zum obigen Video können Sie gerne nachfolgend in Professor Nöhles Essensalltag nachlesen.
Teil 1 der neuen Staffel: Nährwerttabelle – Zucker versteck‘ Dich?
Teil 2 der neuen Staffel: Das Loch in der Ananas
Teil 3 der neuen Staffel: Mein Haus, mein Auto, mein Gluten …
Teil 4 der neuen Staffel: Geheime Mystik um den Barcode
Teil 5 der neuen Staffel: Was macht unsere Lebensmittel eigentlich so lange haltbar?
Teil 6 der neuen Staffel: Im Land der tausend Biere
Teil 7 der neuen Staffel: Hypertonisch – hypotonisch – isotonisch?!
Teil 8 der neuen Staffel: Mehl – was ist denn das für eine Type?
Sämtliche Folgen beider Staffeln können Sie sich hier ansehen.
Professor Nöhles Essensalltag
Ein Thema war in den vergangenen Wochen öfter in den Medien präsent: Hühnersuppe enthielte kein Huhn, allenfalls geringe Mengen an Hühnerfett. Und das sei ja ein Skandal, denn in einer Hühnersuppe müssen richtig dicke Brocken Hühnerfleisch sein.
Ja, da sind sie wieder, unsere vermeintlichen Superköche und selbsternannten Lebensmittelexperten, die noch nie eine Kuh gemolken, noch nie einen Bullen am Nasenring aus dem Stall geführt, noch nie ein Schwein zerlegt, geschweige denn ein Huhn geschlachtet haben und als einzig verfügbare Wissensquelle „Google“ kennen.
Also, wie macht man eine Hühnersuppe?
Gehen wir 150 Jahre zurück, denn aus dieser Zeit stammen die Rezepte. 60 Prozent der deutschen Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft. Die durchschnittliche Kinderzahl war sechs bis acht. Drei Generationen lebten unter einem Dach, Oma und Opa sowieso, denn wo sollten sie wohl sonst hin. Der Hof wurde vom jüngsten Sohn geführt und es war immer noch eine unverheiratete „Tante“ da, manchmal auch zwei, denn die Männer sind im Krieg geblieben. Und alle hatten Hunger.
Hinten im Garten lebten 20 Hühner und ein Hahn, der die Hühner beisammen hielt und sie rechtzeitig vor dem Habicht warnte. Wenn eine Legehenne weniger als 140 Eier pro Jahr legte (heute sind es 280 pro Jahr), dann holte Oma den jüngsten Sohn aus der Familie, der griff das Huhn und der Opa schlug dem Huhn mit dem Beil auf dem Hauklotz den Kopf ab.
Fertig.
Den Kopf holten sich die Katzen, die bereits lauernd aber auf Abstand bedacht vor dem Hauklotz warteten.
Das Huhn wurde in einer Emailleschale mit kochendem Wasser überbrüht, gerupft, ausgenommen, sorgfältig gewaschen und dann in kaltem Wasser in einem ziemlich großen Topf zusammen mit allerlei Gewürzen (sofern denn vorhanden) aufs Feuer gesetzt und stundenlang geköchelt. Das war Sache der ältesten Frau der Familie, denn die Bauersfrau kümmerte sich um die Fütterung des Viehs. Nach zwei Stunden Köcheln war das Huhn fertig und das Fleisch fiel von den Knochen. Eine Legehenne ist nach vier bis fünf Jahren des Eierlegens (heute: maximal 64 Wochen) eine etwas selbst zerfallene Angelegenheit und hat rein gar nichts mit einem Masthuhn und dessen fester Konsistenz gemein. Mehr dazu lesen Sie hier.
Und Sie denken, das ist jetzt die Hühnersuppe? Voll daneben.
Die Knochen des Huhns wurden sorgfältig bis auf den kleinsten Rest ausgelöst und das Fleisch als Hühnerfrikassee serviert. Und zwar zusammen mit Kartoffeln, denn Reis gab es nicht – woher auch. So, jetzt wissen Sie endlich, warum Hühnerfrikassee immer aus klein geschnitzelten Teilchen besteht. Es ist nicht etwa so geschnitten worden, nein, das Fleisch eines Suppenhuhnes fällt genau so vom Knochen.
Und was passiert mit dem Rest, kindlich gesprochen mit dem „Gerippe“ des Huhns? Besser Sie benutzen gleich den veterinärrechtlich richtigen Begriff „Karkasse“.
Die heutige „Hausfrau“ würde die Knochen wegwerfen.
Sagen Sie mal, wollen Sie verhungern oder was? Sie bekommen gleich eins von der Bauersfrau hinter die Ohren, wenn sie so etwas auch nur wagen zu denken.
Der gesamte Rest kam tutto completto wieder zurück in den gleichen Topf, wurde mit Gemüse aus dem Garten ergänzt (Sellerie, Zwiebeln, Lauch, Petersilie, eben alles, was gerade da war) und köchelte erneut stundenlang vor sich hin.
Warum stundenlang – es war doch schon gar? So langsam nähern wir uns der Hühnersuppe: Das gesamte restliche Knochenfleisch, welches von Hand nicht abzulösen war, nebst des Fettes ging jetzt langsam aber sicher in die flüssige Phase über, inklusive der Gelatine, weshalb eine klassische Hühnersuppe immer etwas glibberig ist.
Das Ergebnis: die Hühnersuppe!
An „Tag 1“ nach dem Hühnerfrikassee gab es also stets und immer Hühnersuppe mit Hühnerfett und sehr wenig Fleischfasern als Hühneranteil sowie Gemüse als Hauptbestandteil– und exakt so finden Sie heute die industriell hergestellten Hühnersuppen im Regal.
Aber Achtung! Sie konnten sich nicht einfach die Suppe selber aus dem Topf löffeln und sich das Beste herausfischen – die Suppe wurde zugeteilt. Die Tischherrin war die Bauersfrau und nicht etwa die Oma, die das ganze gekocht hat. Nur sie durfte die Brühe mit Gemüse abschöpfen, ganz geschickt, und ließ so viel wie möglich von dem fleischartigen Rest im Topf. Abends kam der Topf, so wie er war, in die Speisenkammer. Am nächsten Morgen sah man oben auf der Suppe eine circa halbe Zentimeter dicke, erkaltete Fettschicht aus Hühnerfett. Dann hieß es: „Endlich etwas Anständiges auf dem Tisch!“
Und, was gab es an „Tag 2“ nach dem Hühnerfrikassee? Richtig: Hühnersuppe. Immer noch dieselbe natürlich, aber täglich aufgepeppt mit neuem Gemüse aus dem Garten, heute zur Abwechslung mit Erbsen und Karotten.
Und was stand an „Tag 3“ auf dem Tisch? Klar doch, immer noch dieselbe Hühnersuppe, welche selbsterklärend nun aber immer dünner wurde. Irgendwann wurde aus der Hühnersuppe dann eine Wassersuppe, über die ordentlich gelästert wurde – und richtig, schließlich war sie dann tatsächlich alle, unsere Hühnersuppe.
Und dann gab es wieder Steckrüben. Der monotone Speiseplan zog sich fort.
„Opa, wann schlachtest Du das nächste Huhn?“ Auf die sehnsuchtsvollen Nachfragen des Enkelkinds konnte der Großvater nur antworten: „Bei Geburt, Taufe, Konfirmation, Hochzeit und bei der nächsten Beerdigung. Aber zum Erntedank im Herbst gibt es eine Ente und an Weihnachten unsere Gans.“
So, jetzt wissen Sie, warum eine Hühnersuppe mitnichten große Brocken an Hühnerfleisch enthält, sondern vorwiegend Gemüse und allenfalls Hühnerfett nebst wenigen Fleischfasern. Ein einfaches Rezept, das seit vielen Generationen gern gekocht wird.
Lieber Herr Prof. Nöhle,
herzlichen Dank für den tiefen Einblick in Omas Suppentopf. Dass es auch in der Haute Cuisine nicht viel anders war, haben wir im Suppeninstitut bereits festgehalten:
http://www.suppeninstitut.de/download/huehnersuppe-wie-das-huhn-in-den-beutel-kommt.pdf
Beste Grüße!