Von den friedlichen Tafelgenüssen des Goldenen Oktober, hochgehenden Meinungswogen und den verschwimmenden Fronten zwischen Aktivisten und Journalisten berichtet der aktuelle Medien-Querschnitt von Heinz Klaus Mertes.
TOP
Mensch und Kosmos. „Der Sommer war sehr groß“, so der lyrische Abgesang Rilkes mit Blick auf den Wechsel der Jahreszeit. Groß auch die Umstellung hin zu dem, was in deutschen Haushalten an traditionellen und modernen Herbstrezepten auf den Tisch kommt. Hunderte Ergebnisse fördert der Google-Suchklick „Herbstgerichte“ auf den Bildschirm, dazu noch eine opulente Galerie von appetitanregenden Fotos, in denen die kraftvollen Genüsse dieser reifen Jahreszeit auf den Tellern prangen. Weithin Genuss- und Sättigungsversprechen, die weniger auf Askese zielen, als auf Essempfehlungen, wenn die Tage kürzer, kälter und energieverzehrender werden.
Da zeigt sich, dass der Mensch selbst ein Stück Bio ist, gewachsen und gereift in dem Rhythmus der Natur, die unsere Ernährungszivilisation seit der Steinzeit und noch länger prägt. Die kalorienreichere Kost als „Über-Lebensmittel“ in der dunkleren Jahreszeit prägt offenbar die Essgewohnheiten und Speisekarten bis in unsere Moderne, in denen Küchen weithin Labors zur Vermessung von Kohlehydraten und anderen Mikrogramm-Ingredienzien ähneln. Nicht zuletzt wächst unter den Experten und Ratgebern der kraftvollen Süßspeisen sogar der Ernährungspart einer Stimmungsaufhellung in den etwas freudloseren sonnenfernen Jahreszeiten zu und damit zum Zusammenklang körperlichen und seelischen Wohlgefühls. So die Website Chefkoch.de, die unter der Überschrift „Herbst-Rezepte für die goldene Jahreszeit“ 419 Speisevorschläge macht, darunter auch jede Menge solche, die „kalte und regnerische Tage versüßen.“
Kaum eine Veröffentlichung, die auf solchen Kontext nicht hinweist. Dies beileibe nicht nur in den publizistischen Specials für Essen & Trinken, sondern auch in reichweitenstarken Publikumsmedien, die sich zu anderen Zeiten gerne im Bunde mit dem bunten Heer scheinwissenschaftlicher Aktivisten in alarmierender Ernährungspädagogik üben. Natürlich finden sich auch diverse Anleitungen, wie man das herbstliche Plus an Kalorienzufuhr umgehen kann bis hin zu veganer Disziplin für den, der es mag.
Doch für kosmische Sekunden scheinen insgesamt einige Momente einer Art herbstlich-saisonaler Waffenruhe in der Dauerfehde ideologisierter „Ernährungslektionen“ zu herrschen, die auch in der traditionellen Esskultur den Lebensstilen modernen Menschen Freiräume gesunden, wohlschmeckenden Appetits bieten.
Wenn das so anhielte, wäre das TOP.
FLOP
„Gegen den Ozean pfeift man nicht an“, das war die spitzige Erkenntnis des Nobelpreisträgers Kurt Tucholsky – gemünzt seinerzeit auf die Wucht totalitärer Meinungswogen. Unsere Mediengesellschaft – gottlob(!) – ist plural verfasst, sogar verfassungsrechtlich abgesichert. Gleichwohl: Es gibt sie, die Wellen monokultureller Medienströmungen, gegen die sich unter dem Rubrum „Mainstream“ kritische Sorge in vielen Teilen der Gesellschaft breitmacht – in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und zunehmend in den Medien selbst, die um ihre eigene Glaubwürdigkeit besorgt sind. So bietet ein Gastbeitrag in dem führenden Medienmagazin MEEDIA die gut beschriebene und analytische Verortung eines multimedial erfahrenen Ex-Journalisten, an die man in künftigen Diskussionen nicht vorbeikommen dürfte. Scharf skizziert ist darin das Grundproblem des fusionierten Zusammenspiels eines Agenda Settings von korporativen Stichwortgebern, dem sich vielfache Berichterstattung gefällig zuneigt. Folge, so die Schlussfolgerung in dem MEEDIA-Beitrag: „Aus Journalisten werden Aktivisten. Vorurteile und Subjektivismen lösen Fakten ab.“ Ein eklatantes, geradezu prototypisches Fallbeispiel dafür lieferte kürzlich ein Beitrag in ZEIT ONLINE.
Unter der Überschrift „Auch Firmen sollen Lebensmittel retten“ wird der deutschen Lebensmittelbranche, einseitig und falsch belegt, maßgebliche Verantwortung für das Problem der Lebensmittelverschwendung zugewiesen. In irreführender Weise wird dazu eine Studie von der Boston Consulting Group (BCG) über den globalen Umgang mit Lebensmitteln auf die Bundesrepublik herunterfunktioniert. Für Industrienationen wie Deutschland dokumentiert die Studie aber, dass der Großteil vermeidbarer Lebensmittelabfälle zum ganz überwiegenden Teil beim Verbraucherverhalten anzusiedeln, demzufolge auch hier anzusetzen ist. Die Autorin hätte das leicht herausfinden können, wenn sie nach dem journalistischen Prinzip „Audiatur et altera pars“ verfahren wäre. Stattdessen beließ sie es bei einer Kommentierung der Aktivistenorganisation Foodwatch, die entsprechend die Trompeten erschallen ließ, deren irreführenden Töne in das Konzert weiterer medialer Berichterstattung einflossen. So wurde die ZEIT-ONLINE-Autorin – gewollt oder ungewollt – selbst zum Rad im Aktivistengetriebe.
Was eine solche Kettenreaktion auslösen kann, demonstrierte sodann prompt eine Berliner Aktivistengruppe. Bundesweit vernetzt und publicitybegleitet rief sie zum systematischen „Klau in Supermärkten“ auf. Begründung: „Um gegen Lebensmittelvernichtung und für Menschenrechte zu demonstrieren.“ Auch an Handlungsanweisungen der für den sanktionslosen Klau („Das geht ganz einfach“) fehlte es nicht im begleitenden Presseecho; weniger eindeutig dagegen sehen die medialen Verurteilungen derart kriminellen Verhaltens aus.
So stimmt leider das Fazit im erwähnten MEEDIA-Beitrag: Die graue aktivistische Gewalt „organisierter Verantwortungslosigkeit“ (Kurt Biedenkopf), die schon vom Gattungsnamen her (NGO) her Macht durch Meinung an die Stelle legitimierter staatlicher Zivilisation setzt, schafft verderbliche Schieflagen und kein Gemeinwohl. Das verdient objektivierende mediale Distanz und nicht Assimilation.
Denn das wäre abgrundtief FLOP.
TREND
Wogen und Stimmen. Das Tucholsky-Bild suggestiver Meinungswogen, gegen die man nicht ankommt, zumindest nicht bevor sie ausrollen, findet immerhin eine hoffnungsvolle Perspektive in der Erkenntnis des Schrittmachers deutscher Marketingsoziologie, des Psychologieprofessors Otto Walter Haseloff. Für die Durchlöcherung manipulativer Einhelligkeit, die weder Komplexität, Differenzierung, Zielkonflikte und schon gar nicht abweichende Meinungen gelten lasse, könne das Erheben nur einer einzigen abweichenden Stimme Manches ausrichten.
Dies hat der Mediziner Berthold Kletzko, Leiter der Abteilung für Stoffwechsel und Ernährung am Dr. von Haunersches Kinderspital in München gewagt. Ähnlich der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) bezeichnet er eine konsequent vegane Ernährung von Kindern ohne Nahrungsergänzungsmittel als „Mangelernährung“ und begründete auch das Risiko von ausgleichenden Nahrungsergänzungsmittel. Nur in einem kleinen SZ-Artikel fand das bisher seinen Niederschlag. Aber auch das kann genügen, suggestive Monowahrnehmungen mit Information zu bereichern. Wenn diese nämlich Rückhalt findet, in der persönlichen Lebenserfahrung die sich in individuellen Köpfen summiert, somit rationales Verhalten prägt und Wirklichkeit trifft.
Und das scheint ein unabkömmlicher Trend, wie sogar die mannigfach publizierten und gefragten Speiserezepte für den Herbst dokumentieren.
Heinz Klaus Mertes ist Medienunternehmer und -berater und ehemaliger Chefredakteur der „Versicherungswirtschaft“. Davor war er u.a. Programmdirektor von Sat.1 und Fernseh-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks. Bei Filetspitzen.de schreibt er über aktuelle Tops, Flops und Trends in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft.