Irreführende Einäugigkeit in den Medien, die Vorzüge einer Nahsicht statt realitätsferner Klischees und den wachsenden Trend zu individueller Konsumautarkie bei deutschen Verbrauchern, diskutiert der Presse-Querschnitt von Heinz Klaus Mertes diese Woche.
TOP
Klischees & Nahsicht. Stereotypen – etwas weniger modisch als Klischees bezeichnet -, machen Manches einfacher in der Medienkommunikation. Denn Klischees sind der kürzeste Draht in Hirne und Herzen der Menschen hinein. Und komfortabel dazu: Denn man braucht bei der Projektion eines argumentativen Standardbildes nicht viel zu erklären, erst recht erspart man sich Differenzierung. Der Preis für diese Bequemlichkeit besteht in stabilen Vorurteilen.
Eines davon beschwört in der Lebensmittelindustrie das Walten großmächtiger globaler Konzerne, das den ganzen Ernährungssektor überrolle – und mit ihm die Konsumenten. An diesem Klischee aktuell genagt zu haben, ist das Verdienst des Mitteldeutschen Ernährungsgipfels in Erfurt vergangene Woche. Sogar der nicht gerade kapitalistisch ausgerichtete Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) würdigte Leistungskraft und Verdienste der rund 200 Nahrungshersteller in seinem Freistaat (20.000 Mitarbeiter, 4,5 Milliarden Euro Jahresumsatz) – zumeist kleine und mittelständische Betriebe. Wie aus Brüssel bei dieser Gipfelgelegenheit verlautete, entspricht diese Struktur der Realität für die Bundesrepublik insgesamt. So haben die sechs größten Erzeuger von Lebensmitteln zusammen nur einen Anteil von 8,5 Prozent der Branche in Deutschland.
Der Thüringer Allgemeinen – authentisch vor Ort beim Erfurter Gipfel – blieb es bislang vorbehalten, dass Klischeebild von der Übermacht der industriellen Konzerne unter den Herstellern mit den richtigen differenzierenden Tupfern zu versehen. Nahsicht ist halt besser als Fernsicht via Klischee. Vielleicht gelangt die regionale Presseveröffentlichung dann doch auch demnächst in die Redaktionszentrifuge des Medienmarktes insgesamt. Das würde dem objektiven Informationsklima dienen. Das wäre TOP.
FLOP
TV & Dealmakers. Eine neue Sendung ist wie ein neues Leben, zumindest für die Redakteure und bildschirmpräsenten Moderatoren, vor allem, wenn es sich um die beste Zeit im bundesweiten ARD-Network handelt, mit Millionen erwartungsvoller Zuschauer.
Zum Start in die neue TV-Saison trat das Erste am 3. September mit einer wöchentlichen Verbrauchersendung an und zwar zur besten Zeit montags nach der Tagesschau mit satten 45 Minuten Länge. Sendetitel „Der beste Deal“ – was als transatlantischer Präsidenten-O-Ton hierzulande etwas in Misskredit geraten ist und verdächtig nach Wiederbelebung des zweifelhaften Konsumschlachtrufs „Geiz ist geil“ klingt.
Ganz so schlimm kam es dann doch nicht. Vor allem, weil man die Billigpreisjäger vor dem Bildschirm moralisch damit einlullte, dass es darum gehe, die „Tricks der Industrie“ zu durchschauen. In der ersten Ausgabe stand unter anderem der angebliche „Mythos“ des Mindesthaltbarkeitsdatums bei Lebensmitteln auf der Agenda. Aber nicht etwa der Umstand, dass gegen diese Fristangabe, die bereits seit 1992 im Sinne der Verbrauchersicherheit deutsche und europäische Rechtsvorschrift ist, verstoßen würde. Sondern sie zeitlich zu eng gefasst sei. Denn, so wurde in Vorratskammern und Kühlschränken von einem Haufen Haushalte mit Kamera und Mikro herumgeforscht und herausgefunden, dass ordentlich aufbewahrte Lebensmittel auch nach dem angesagten Datum der Mindesthaltbarkeit noch bestens verzehrbar waren und sogar schmeckten, wie selbst die beigezogenen, wirklich unanfechtbaren wissenschaftlichen Experten zungenschnalzend bestätigten.
Diffuse Entwarnung der Sendung also an die Verbraucher: Lebensmittelvorräte seien durchaus über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus genießbar. Dass dem so ist, dank der zeitlichen, analysebasierten Festlegung, die die Hersteller nach allen Regeln für Qualität und Haltbarkeit der Lebensmitteltechnik bewirken, blieb allerdings ungesagt. Im Gegenteil, man „vergiftete“ buchstäblich die enormen Knowhow-Investitionen der Lebensmittelindustrie in Qualität und Haltbarkeit mit einer ebenso oft wiederholten wie widerlegten böswilligen Unterstellung: Die Unternehmen würden das MHD extra kurz befristen, um den Warenumschlag in Verbraucherhand anzuwerfen. Und natürlich gab es dabei den Geleitschutz via Statement-Deal mit den berufsmäßigen Kritikern der Foodwatch-Campaigner an den profitlichen Nimmersatts der Industrie.
Eigentlich fast eine Art Konsumenten-Diskriminierung: Als ob nämlich Privathaushalte geradewegs auf ein Wegwerfen genießbarer, für gutes Geld gekaufter Essensvorräte aus seien – und die Konsumenten weder willens noch in der Lage, sich bei etwaigem Überschreiten der angegebenen Mindesthaltbarkeit auf ihre eigene Prüfung und Sinne vor dem Verzehr zu verlassen.
Schlichtweg eine informative Unterlassung deshalb, dass keine Expertenstimme der Hersteller im Beitrag zu finden war. Hatte man doch in der Premierenankündigung noch propagiert, die Verbraucheraufklärung solle „auf unterhaltsame, provokante und investigative Weise“ Orientierung bieten. Dieser Dreiklang wurde unnötiger Weise oder gedankenlos oder planvoll verfehlt. Vielleicht liegt daran auch die für eine Primetime-Sendung flaue Einschaltquote von gerade über zwei Millionen Zuschauern, mit deutlich Luft nach oben, wenn denn der informative Nutzwert künftig steigen sollte.
Deshalb: Das TV-Programmvorhaben, mit einem neuen Ansatz zur Verbraucherorientierung beizutragen, ist durchaus lobenswert, wurde aber leider bei diesem Ernährungsthema verpasst. Das ist schade und deshalb ein FLOP, wenn auch mit ein paar hellen Streifen am Erwartungshorizont. Vielleicht wird’s bei den geplanten weiteren 13 Folgen besser, wenn man die Doppelzüngigkeit populistischen Dealmachens mit kommerzialisierten Foodwatchern lässt.
TREND
Blüten & Esskultur. Die Beobachtung der deutschen Medienlandschaft rund um die Ernährung zeitigt mitunter die seltsamsten Blüten. Während „Die Welt“ in einem seitenlangen Special vehement für eine „neue deutsche Esskultur“ plädiert, findet sich in einem noch längeren höchst anschaulichen Beitrag der Süddeutschen Zeitung die hoffnungsvolle Perspektive „Insekten sind Teil der Esskultur“. Das könne man zum Beispiel von Mexiko lernen. Ob das die deutschen Durchschnittsverbraucher so bald auch so sehen, scheint dann doch zweifelhaft. Aussagekräftiger ist wohl die neueste Konsumenten-Studie des führenden Marktforschungsinstituts Nielsen über das Einkaufsverhalten hierzulande. Das Resümee: Die Deutschen gingen zwar seltener einkaufen, „dafür aber planvoller und strukturierter“. Immer mehr Konsumenten nutzten die Möglichkeit, sich vor dem Einkauf online über Produkte und Angebote zu informieren und gäben dann dafür gerne mehr Geld aus.
TREND ist: Das mündige, individuelle, sich auf die persönliche Eigenentscheidung und -erfahrung stützende Konsumverhalten ist im Aufwind. Und das ist gut so.