Über Fortschritt contra genetische Vorurteile, angebliche Kniefälle und ein missglücktes AOK-Transparenzstück. Der Presse-Querschnitt der Woche von Heinz Klaus Mertes.
TOP
Fortschritt verpflichtet. Der 16. Oktober 2018 war für die Ernährung der Deutschen kein Tag wie jeder andere: Ein Bündnis zwischen Politik und Wirtschaft wurde vereinbart, das Bundesernährungsministerin Julia Klöckner als wichtigen Schritt ausrief, „den es so noch nicht gegeben hat“.
Essen und Trinken muss jeder. Klar, dass dies eine fundamentale politische Dimension hat. Denn es geht um das gesunde, auch geschmackliche Wohlergehen in der Lebensführung von Millionen Bürgern und Verbrauchern. Es geht um Ernährung und Ernährungsweisen in der modernen Gesellschaft, also um Lebensmittel. Die freilich werden nicht von der Politik hergestellt und auch die Versorgung mit dem, was von Millionen zu Haus und unterwegs verzehrt wird, obliegt der marktwirtschaftlichen Verantwortung und Leistungskraft von Industrie und Handel.
Die zwischen Staat und Wirtschaftsverbänden abgeschlossene Grundsatzvereinbarung unter der etwas sperrigen Überschrift „Reduktions- und Innovationsstrategie“ zielt darauf, die schon derzeit enormen Anstrengungen von Lebensmittelindustrie und Handel für weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten weiter zu verstärken und innovativ zu verstetigen. An solchen innovativen Vorhaben gibt es keinen Mangel und fast täglich kommen weitere hinzu, wie die „WirtschaftsWoche“ vom 23. Oktober in einem breiten Report darstellte. Ob bei Molkerei- und Tiefkühlprodukten bis hin zu Süßwaren, ob von großen Markenherstellern und Handelsketten oder vom mittelständischen Lebensmittelhandwerk – auf zahlreichen Sektoren gehen innovative Anstrengungen für vielfachen gesundheitspolitischen Fortschritt voran. Mit dem jetzt unterzeichneten ernährungs- und gesundheitspolitischen Verpflichtungspakt erfahren diese Leistungen ausdrücklich Anerkennung und gebündelte Dynamik.
Das ist TOP.
FLOP
Transparenz ohne Echo. Eine indirekte Adresse an die Verantwortung der Medienkommunikation findet sich in der Bündniserklärung zwischen Politik und Wirtschaft auch. Man verfolge einen „ganzheitlichen Ansatz“, heißt es, „um einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu ermöglichen“. Der Schlüssel dazu liege auch in der Verbesserung der Ernährungskompetenz in allen Lebensphasen. Das bedeutet: Kommunikation tut not.
Auf der einen Seite versuchen zum Beispiel immer mehr Lebensmittelproduzenten, den Zuckergehalt in den Produkten zu reduzieren. Andererseits aber, so eine aktuelle Studie der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG), ist nur jeder fünfte Konsument zu Abweichungen vom gewohnten Geschmack bereit. Lebensmittelforschung und -technologie arbeiten zwar daran, hier die Veränderungsschwelle zu senken, aber kaum weniger wichtig wäre eine konstruktive kommunikative Begleitung dieser Neu- und Weiterentwicklungen.
Das allerdings bedingte ein Herauskommen aus den immer wieder aufgeworfenen Schützengräben von schier genetischen Vorurteilen gegenüber der Ernährungswirtschaft. Auch in den Kommentaren zu dem neuen Fortschrittsbündnis brechen sie durch. Man mäkelt allerorts herum, dass die Vereinbarung keinen Gesetzeszwang ausübe, sondern „nur“ eine Verpflichtung sei. Wie nicht selten tat sich dabei die SZ mit der Intonierung hervor und schlagzeilte den durchaus säkularen Schritt abfällig als „Kniefall vor der Lebensmittelindustrie“.
Schwerwiegender als solche medialen Dauerausrutscher scheint, dass gesellschaftspolitische Verantwortungsträger wie die gesetzliche Krankenversicherung AOK dem Profilierungsdrang ihrer Oberen zum Opfer gefallen ist. Natürlich hat eine so genannte „Gesundheitskasse“ das Recht und den Auftrag, sich über den Zusammenhang zwischen Ernährung und Volksgesundheit zu äußern. Der Schwank freilich, den die Kasse mit dem ärmlichen Anschauungsstück, aber nach ihren Worten „weltweit ersten transparenten Supermarktes“ in Berlin inszenierte, war ausgesprochen ridikül: Die „Show“ bestand darin, Zuckerwürfel um anonym verpackte Lebensmitteln herum zu drapieren. Selbst der zur PR-Verstärkung geladene Bundestagspromi Karl Lauterbach (SPD) ließ da seiner gewohnt gelangweilten Miene freien Lauf. Und nicht einmal die gesinnungsnahen Food-NGOs fanden das angestrebte AOK-Transparenzstück der Ladenhüter in Berlin applauswürdig. Andernfalls wäre das Medienecho womöglich nicht so dünn geblieben. Denn diese Echokammern funktionieren ja sonst eigentlich recht zuverlässig. FLOP.
TREND
Kompetenzen bündeln. Ein Bündnis von verantworteter Politik und Wirtschaft, um Ziele zu vereinbaren, Kräfte und Kompetenzen im Sinne des Gemeinwohls zu bündeln, setzt mehr Können und Innovationen frei als Regulierung und Verbote. Was also liegt näher – so etwa der Grünen-Vorsitzende und Parteiphilosoph Robert Habeck –, als „das Beste aus beiden Welten zusammen zu bringen“, um Nutzen zu mehren und Schaden abzuwenden.