Was passiert, wenn Journalisten die Rolle von „Experten des Alltags“ annehmen? Bekommen Verbraucher von ihnen die Orientierung, die sie suchen? Die aktuelle Medien-Kolumne von Heinz Klaus Mertes.
Mediale Ratgeber für das Leben rundum in allen Facetten gibt es in geradezu unübersichtlicher Fülle lebens- und tagbegleitend – gedruckt, gesendet, und (in explosionsartiger Vermehrung) online auf jedermanns Smartie. An der wohl reichhaltigsten Vegetation dieses Genres kann sich gewiss die Ernährungswirtschaft erfreuen. Nicht wenige Beobachter sprechen deshalb eher von einem Dschungel, in dem sich die Ratsuchenden leicht verirren können. Oder die Informationswilligen müssen sich wie mit einer Machete Schneisen durch das Gestrüpp mit vielen verfänglichen Schlingen schlagen.
Ratgeberjournalismus: Kompass oder Irrgarten?
Wikipedia mag nicht die Mutter oder Quelle aller Weisheit sein. Mitunter ist es freilich aufschlussreich, über diesen Online-Almanach einen Ein- bis Überblick zu gewinnen was so an populärem Verständnis über viel traktierte und auch mächtige Mediengenres herrscht. Zum Thema „Ratgeberjournalismus“ gibt es gleich mehrere Seiten. Zu Anfang gleich der Versuch einer Definition:
„Ratgeberjournalismus ist ein journalistisches Format mit dem Anspruch, dem Medienrezipienten bei der Lösung konkreter Probleme zu helfen. Ratgeberjournalismus ist eng mit dem Nutzwertjournalismus verwandt, bei Konsumentenfragen besteht auch eine Nähe zum Verbraucherjournalismus.“
Allerdings bietet und provoziert solche Publizität, die eigentlich beansprucht, Kompass zu sein immer wieder alarmierender Irrläufe, die auf Schlagzeilen zielen und weniger auf die Orientierung der Verbraucherwelt heute und der Menschen, die darin eine Optimierung ihrer persönlichen Lebens- und Ernährungsweisen anstreben.
„Ess-Halloween“: Gruselgeschichten zum Weltvegantag
Aktuelles Beispiel: Von Europas zentraler Veganfachmesse in Köln Anfang November, auf der sich mehr als 6.200 Fachbesucher und Verbraucher sowie 130 Aussteller aus 17 Ländern treffen, gehen wichtige Richtungsimpulse für aufgekommene Lebensweisen und demzufolge Lebensmittel aus. Dass dem einordnenden journalistischen Coaching zum Weltvegantag ausgerechnet an Allerheiligen aber gedient ist, wenn schon im Vorfeld die Echokammern angefüllt werden mit Tatarennachrichten über die buchstäblich todbeschleunigende Wirkung von Fleischkonsum, gemahnt doch eher an einen künstlich erzeugten Ess-Halloween des Grauens. Zu der auch über Agenturen ins Konsumentenland verbreiteten Botschaft von Kölner Stadtanzeiger bis Stern: „Wer viel Fleisch isst, stirbt früher“ diente eine aufgewärmte Erhebung aus Schweden, die als „Langzeitstudie“ hervorgehoben wurde, aber keinesfalls ausreicht, das Maß des Fleischkonsums für frühe Sterbehäufigkeit ursächlich auszuweisen.
Laut dem Ernährungsexperten Frank Hu von der Harvard T.H. Chan School of Public Health in Boston sei es deutlich zu früh, um wirklich von Beweisen zu reden. Die genaue Erhebung der Ernährung, die häufig in Kombination mit verschiedensten anderen Nahrungsmitteln gegessen werden, sei bisher noch nicht gegeben. Natürlich wurde trotzdem diese Alarmbotschaft des fleischlichen Frühsterbens zugleich mit der globalen Umweltbelastung des Fleischverzehrs kontaminiert.
Gegenseitiges Tolerieren statt ständiger Konfrontation
Was, so fragt man sich, bringen solche FLOPs des Ratgeberjournalismus an „Nutzwert“ für Orientierung suchende Verbraucher? Wo doch zugleich andere Ernährungs-Ratgeber und Experten zum Beispiel begründen, dass rein veganen Lebensweisen ebenfalls gesundheitliche Grenzen gesetzt sind. Der Konfrontation zwischen den dogmatischen Lagern setzte das Handelsblatt am Tage des globalen Events den Überschriften-Appell entgegen: „Veganer und Nicht-Veganer – nicht so verbissen!“ Wenn diese Aufforderung zum Trend würde, wäre der Welternährungszivilisation sowie deren Fortschritt und vor allem auch den Ratsuchenden Konsumenten mächtig gedient.
Welchem Rat sollen Verbraucher vertrauen?
Um noch einmal Wikipedia zu zitieren:„Beratung über Massenmedien ist relativ unverbindlich, anonym, preisgünstig und schnell verfügbar. Dadurch kann die Hemmschwelle für Ratsuchende niedriger sein als bei anderen beratenden Institutionen. Der Ratgeberjournalismus kann u.U. dazu beitragen, das Problembewusstsein der Betroffenen zu schärfen, so dass sie früher und schneller professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.“
Sehr wahr, aber wer bietet diese professionelle Hilfe, deren Kompetenz zu vertrauen ist? Letztlich muss zu der viel geforderten „Mündigkeit der Verbraucher“ wohl auch die Mündigkeit der Medienkonsumenten gegenüber den einseitigen und widersprüchlichen Aussagen der gedruckten und virtuellen Ratgeberwelt kommen.
Notwenigkeit und Mut zu journalistischen Sachbefunden
Journalisten seien „Experten des Alltags“, lautet der Befund von Medienwissenschaftlern der Hochschule Eichstätt, die in ihrer Ratgeber-Verantwortung die vielfältigen Wissensbrücken zur Fachwelt schlagen müssten. Und die bestehen halt nicht im alarmierenden Wellenschlag plus aktivistischen Kampagnenoffensiven, sondern im fundierten Informations- und Thementransfer von professioneller, gerade auch industrieller Forschung hin zu den Menschen in der modernen Gesellschaft. Solche Informationsleistung bringt nicht nur Nutzwert, sondern ist Lebenshilfe pur und deshalb TOP.
Journalismus, der einordnet – ein Positivbeispiel
Man muss als Medienrezensent und selbst Medienmacher auch loben können. Zeit Online zum Beispiel verdient dies wegen eines seriös einordnenden Beitrags zu dem jüngsten Medien-Aufreger, dass Mikroplastik jetzt auch im menschlichen Stuhlgang entdeckt worden sei. Die Wissenschaft rätselt: Wie gefährlich ist Mikroplastik im menschlichen Körper? Keineswegs redete die Zeit-Wissenschaftsredaktion das Risiko Mikroplastik für Umwelt, Natur und Fauna herunter („Plastik ist überall, und das kann nicht gut sein“), aber der Beitrag führte auf eine fundierte Bestandsaufnahme zurück, die zur Beurteilung gehört, um solchen Entwicklungen mittel- und langfristig ziel- und sachgerecht begegnen zu können.
Mikroplastik gelange nicht etwa nur durch handelsübliche Verpackungen in Umlauf, sondern unter anderem auch durch Autoreifen-Abrieb, Zerkleinerung von Bauschutt oder Kosmetika, vielfach vor allem in Gewässer. Mikroplastik könne von Kläranlagen zudem nicht vollständig zurückgehalten werden.
Differenzierte Befunde haben Mehrwert für alle
Wer wohl wäre an solch differenzierten Befunden nicht interessiert? Leser, Verbraucher, Produzenten brauchen solche Inputs – und nicht zuletzt die Politik, die oft übereilt zu Regulierungsmaßnahmen durch außerparlamentarischem Emotionalisierungsdruck getrieben scheint. Da wird schnell die amtliche Beurteilung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) im befeuerten Mainstream überspült, dass eine gesundheitliche Bewertung zur Aufnahme solcher Partikel über die Nahrung derzeit nicht möglich ist. Immerhin nimmt das Institut die Sorgen von Verbrauchern ernst. Daten, dass es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen gekommen ist oder kommen könnte, hat das Institut aber nicht.
Auf diesen offiziellen Befund und weitere Urteile kann sich Jakob Simmank im Zeit-Ressort „Wissen“ stützen, um einen Beitrag zu veröffentlichen, der wegen seiner Qualität und auch seines Muts zur publizistischen Ausgewogenheit entgegen populistischem Mainstream das Prädikat TOP verdient.
Hauptbefunde und Trend des Autors in der Übersicht:
- 1. Mikroplastik im Kot: Das heißt erst mal nicht viel
- 2. Was Mikroplastik für den Menschen bedeutet, ist völlig unklar
- 3. Es wird noch Jahre dauern, bis wir verstehen, wie Mikroplastik wirkt.
Aber auch:
Sämtliche Feststellungen hat der Autor objektiv und detailliert begründet. Das freilich verhinderte nicht, dass er viel Online-Hatspeech erntete, von Seiten der berufsmäßigen NGO-Wachhabenden, die es gerne möglichst schnell möglichst schlimm haben wollen, um als Schutzengel aktivistische Wehrübungen zu veranstalten.
Journalismus soll Lösungsmöglichkeiten aufzeigen
Warum das NGO-Gebahren und Aktivismus-Journalismus ein FLOP ist, beschreibt Wikipedia und benennt auch den professionellen TREND zu produktivem medialem Ratgeberjournalismus mit Verbraucher-Nutzwert. Er könne und solle keine definitiven Lösungen anbieten, sondern nur „Lösungsmöglichkeiten vorschlagen“.
Wirkliche Ratgeber mit Medienreichweite und -verantwortung halten sich an dieses plurale Gebot. Und dabei an das unabkömmliche Prinzip aller publizistischen Glaubwürdigkeit:
„Die Fakten sind heilig. Die Kommentare sind frei.“
Heinz Klaus Mertes ist Medienunternehmer und -berater und ehemaliger Chefredakteur der „Versicherungswirtschaft“. Davor war er u.a. Programmdirektor von Sat.1 und Fernseh-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks. In seiner Kolumne auf Filetspitzen.de schreibt er über aktuelle Tops, Flops und Trends in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft.
Lieber Herr Mertens, danke für diese kritische Analyse, die sich Ihre Kollegen zu Herzen nehmen, aber vermutlich nicht tun werden.