Vom Auseinanderklaffen journalistischer Qualität zwischen Print- und Onlineerzeugern. Die aktuelle Medien-Kolumne von Heinz Klaus Mertes.
Was ist Wahrheit?
„Was ist Wahrheit?“ – Diese immerwährende Pilatus-Frage treibt nicht nur die Theologen und Philosophen um, sondern auch die zahllosen Ernährungsratgeber, die unterwegs sind, um aufzuklären und zu missionieren, zu raten oder zu verbieten – alles natürlich im Dienste der Gesundheit und eines Lebenswandels, der millionenfaches Ego mit den Bedürfnissen und Lüsten in Einklang zu bringen sucht – mit Natur, Umwelt, Ökonomie und Nachhaltigkeit.
Gibt es im Journalismus ein Ideal der Wahrheit?
Das Magazin Stern hat sich in seiner Ausgabe vom 15. November 2018 getraut, das Ideal der Wahrheit anzugehen. Die Schlagzeile „DIE WAHRHEIT…ÜBER FLEISCH“ begann bildlich über treuherzig guckende Weiderinder und mündete sodann (bitte umblättern) auf dem Foto eines gut gewürzten Steaks, das wahrlich Appetit macht – wenn man denn nicht gerade zur Vegetarier- oder Veganergemeinde gehört. Kompliment – für ein illustriertes Magazin gut und emotional intoniert! Und die Information auf den Folgeseiten? Überraschend – die inhaltliche Zubereitung fiel keineswegs ab und wurde wohlschmeckender Weise nicht in dem bei Ernährungsgeschichten oft überwürzten Konfrontationsmodus serviert. TOP-Aussagen:
Im Für und Wider von Fleisch als angemessene, auch sinnvolle Nahrungsquelle („effiziente Eiweißlieferanten“), eine Zusammenstellung bereits gebräuchlicher Alternativen für einen planvolleren Verzehr („Weniger Fleisch, aber wie?“), die Angebotsfortschritte der Lebensmittelindustrie („Längst suchen Züchter, Forscher nach schmackhaften Alternativen“) – alles das findet sich übersichtlich und tendenziell nicht aufdringlich für die Leserschaft garniert.
Qualitätsinformation ohne rechthaberische Agitationsbündnisse ist möglich
Die gelungene journalistische und redaktionelle Filetierung eines der kontroversesten Themen öffentlicher Ernährungsdispute heute dokumentiert: Qualitätsinformation ohne rechthaberische Agitationsbündnisse ist möglich. Und nicht nur das: Sie ist auch verflixt spannend – eine Top-Leistung aus dem Hamburger Großverlag, die Schule machen könnte. Und zwar als Standard und Trendsetter im marktweiten Mediengeschäft rund um Ernährung insgesamt, nicht zuletzt womöglich auch bei den zahlreichen G&J-Ess- und Gastro-Publikationen unterm eigenen Dach (vgl. Kolumne KW 40).
Das Zusammenspiel von Print- und Online-Journalismus
Die Print-Titel sind für Zeitungen und Zeitschriften nach wie vor die Markentürme, die in das Medienklima hineinragen. Das ist bei sämtlichen Publikationen so, ob Tages- und Wochenzeitungen oder Magazine, die mit Nachrichten und Themen Reichweite in Markt und Meinung suchen. Ohne ihre digitalen Fußtruppen in der Online-Landschaft würden die hochragenden imagebildenden Druckformate aber publizistisch und kommerziell verhungern. So hat auch der Kampf um die Hoheit in den großen Verlagshäusern mit spektakulären Führungswechseln schon längst begonnen – ob im Spiegel, bei Springer, SZ oder G&J.
Online-Journalismus: Follower statt Leser gesucht
Dabei scheint sich eine publizistische Arbeitsteilung, eine Art Doppelstrategie, anzubahnen: Die Printtitel – traditionsreich und brandingstark – strahlen ins Land, die genannten Fußtruppen aber machen mit ihren Lassos in Form vielgestaltiger Online-Formate die Gefangenen vulgo Medienkonsumenten. Dieses Bild scheint gewagt, ist aber keineswegs abwegig. So rangeln unter dem Brandingdach der Drucktitel vielfältige Formate um Worldwideweb-Durchdringung. Und dies nicht nur einmal die Woche, sondern in permanenter Reizung: Follower gesucht statt Leser. Und da geht es weithin weniger zimperlich zu als auf den Qualitätsetagen des Drucktitels.
So findet sich zeitlich parallel zu dem oben gelobten „Wahrheitsbeitrag“ des Donnerstag-Stern in seinem Online-„Ratgeber Gesundheit“ die Ausbeutung einer wieder einmal unsäglichen „neuen Studie“, die in der kampagnösen Überschrift gipfelt: „Fleischsteuer könnte 220 000 Menschen pro Jahr retten“. Wo dafür die Rettungssteuer überall auf dem Globus erhoben werden soll, bleibt trotz vagem Bezug auf eine WHO-Einschätzung ungesagt. Aber immerhin für Deutschland gilt in Großlettern: „Steuer für verarbeitetes Fleisch müsste um 166 Prozent steigen“.
Journalistische Qualitätsunterschiede Print vs. Online
Man könnte über einen solchen FLOP-Unsinn hinwegsehen, wenn er nicht mit dem Label einer etablierten Medienmarke versehen wäre. Leider aber ist dieses Auseinanderklaffen von journalistischer Qualität zwischen Print- und Onlineerzeugern alles andere als ein Einzelfall. Die Medienforschung hat dies schon fundiert aufgearbeitet, weil solche Publizistik exakt in das hineinführt, was unter dem Begriff „Echokammern“ die Kommunikationspäpste jeglicher Richtung zu beunruhigenden Warnungen über die Fragmentierung der Mediengesellschaft veranlasst. So das Fazit auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung im September.
Die Dynamik der Echokammern im Online-Journalismus
Das Phänomen sei, „dass viele Menschen in den sozialen Netzwerken dazu neigten, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben und sich dabei gegenseitig in der eigenen Position zu verstärken. In den Netzwerken selbst bildet sich dadurch eine fatale Dynamik. Befeuert durch die Echokammer verbreiten sich nicht nur konsensfähige Inhalte, sondern auch Kommentarausreißer innerhalb der Netzwerke wie ein Lauffeuer…ein kommunikativer Inzest“.
Damit trifft die sich eher in linken Bündnissen bewegende Böll-Stiftung naturgemäß auch eine Klientel, die ihr nahesteht, was respektabler Weise auch nicht verhehlt wird. Denn die publizistischen Netzformate unter angesehener Medienadresse dienen naturgemäß auch als Einfallstore für zielgerichtetes Agitprop. Solche Studien, wie die oben kritisierte, schafften, so das Kongresspapier „alternative Realität mit Medien, die abseits der klassischen, etablierten Medien eine gewisse Ideologie sehr krass verfolgen mit dem Effekt, dass man sich dadurch eben immer wieder bestätigt findet in seinem Weltbild und auch nicht mehr auf andere Dinge zugreifen muss.“
Die Verantwortung der Print-Medien für ihre Online-Pendants
So bleibt im TREND wohl die Herausforderung an die „etablierten Medien“, in den Verlagshäusern ihre klassische journalistische Professionalität den Online-Redaktionen und digitalen Fußtruppen unter dem gleichen Namensdach zu gute kommen zu lassen.
„Die Fakten sind heilig. Die Kommentare sind frei.“
Heinz Klaus Mertes, Träger des Konrad Adenauer-Preises für Publizistik, ist als Medienproduzent, Berater und Autor für Verlage, Sender sowie Unternehmen und Verbände tätig und gehört verschiedenen Branchengremien an. Davor war er u.a. Programmdirektor von Sat.1, Fernseh-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks und Chefredakteur der „Versicherungswirtschaft“. In seiner Kolumne auf Filetspitzen.de schreibt er über aktuelle Tops, Flops und Trends in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft.