Zu was führt die Branchenerschütterung nach Aufdeckung der Spiegel-Fakes? Findet die chronische Verwechslung von populistischer Tendenziösität mit journalistischer Haltung ein Ende? Das begonnene Jahr ist für die deutsche Mediengesellschaft keines wie jedes andere und geht besonders auch Wirtschaft und Unternehmen an. Ein Trendkommentar zum Jahresbeginn von Heinz Klaus Mertes.
Kaum ist die Champagnerstimmung des Jahresanfangs gewichen, der Feinstaubgehalt der Böller und Raketen von kalter Schneeluft verweht, richtet sich der Blick auf das Kommende in dem bekannten Zwiespalt zwischen „Weiter so“ und energiegeladenen Ansagen eines Rucks nach vorne. Der indes ist nicht immer freiwillig.
So haben die Medien nach Entlarvung des Spiegel-Fake-Reportierens um ihre ohnehin angegriffene Reputation als glaubwürdige Vermittler dessen, „was ist“, zu kämpfen. Oder gehört es zum journalistischen Mehrheitstrend, Fiktionen zu frönen, was man gerne hätte in der Reichweitenspekulation eines populistischen Weltbildes.
Die Dauerverführung zu tendenziöser Stimmungsmache
Nicht zuletzt gerade die Ernährungsbranche weiß um manch garstig Gericht, das in der Retortenmischung von missionarischem Aktivistentum, scheinwissenschaftlicher Studienflut und journalistischer Würzung auf den medialen Bunsenbrennern geköchelt wird.
Essen und Trinken steht nun einmal buchstäblich vital im Zentrum der Lebensführung von Millionen – oder treffender gesagt – eines jeden; denn essen muss eben jeder. Deshalb liegen hier Chance und Verführung zu voluntaristischer, modisch-tendenziöser Stimmungsaufbereitung vor der Tür der Redaktionsstuben. Und Verführungen wird man nach einem Bonmot Churchills am ehesten los, wenn man ihnen nachgibt.
Die elfenbeinernen Wachttürme des NGO-Szenarios
Obendrein trefflich alimentiert von dem schier Pawlowschen NGO-Reflex, bei allem und jedem eine unheilige Allianz zwischen machtvollen Konzernen und williger Politik zu figurieren. Frisches Beispiel aus diesem noch jungen Jahr: Zitiert von Tagesschau vom 9. Januar und auf weiteren Nachrichtenwellen kündigte die Bundesministerin für Ernährung als operationelles politisches Ziel das sehr konkrete nationale Politikvorhaben an, gesunde Ernährungsweisen in Deutschland zu befördern. Dass die Ministerin erwähnte („Deutsche wollen gesundes Essen“ und „Es bringt nichts, wenn‘s nicht schmeckt“), man werde dabei im Zusammenwirken mit der Lebensmittelwirtschaft auch die Bevölkerung bei entsprechender Neugewöhnung mitnehmen („Es bringt nichts, wenns nicht schmeckt“), war denn schon wohl wieder zuviel für die Alarmbläser auf dem elfenbeinernen Wachtürmen des non-gouvernementalen Szenarios. So folgte dem demoskopischen Ernährungsreport der Ministerin auf dem Fuße ein vergrätztes Statement des Foodwatch-Geschäftsführers Martin Rücker, in dem er seiner ideologischen Fixierung auf ein misshelliges Kombinat zwischen Politik und Konzernen ein weiteres Mal Worte verlieh. Ein FLOP-Stereo ohne Informationsgewinn.
Was das mit dem Follow-up der zu Tage getretenen Spiegel-Fälschungen zu tun hat? Nun, die interne Branchendiskussion dürfte nicht aufzuhalten sein, inwieweit die inkriminierten journalistischen Manipulationen lediglich einem journalistischen Einzeltäter zuzuordnen sind, was verständlicher Weise nicht nur dem ramponierte Blatt wohl am liebsten wäre. Oder aber beginnt ein ehrlicher Disput, inwieweit solche Macharten tendenziösen Wirklichkeitstransfers weithin zum medialen Standard gehören. Das Branchen-Portal Meedia meldete seine Zweifel an dessen Überwindung nach dem aufgekommenen Spiegel-Desaster in fetter Überschrift an: „Skepsis ist angebracht, dass die große Umdenke beginnt.“ Und Gastautor Ulrich Werner Schulze mit Erfahrungen als Chef vom Dienst bei FAZ und SZ sieht grundsätzliche Fragen berührt. Es müsse wieder ums Handwerk gehen, plädiert er, und nicht um „Meinung first“. Die meisten Leserinnen und Leser seien in der Lage sich ihre Meinung selbst zu bilden, sie brauchten keine „vorgefertigten Lebensmuster der Edelfedern“. Kompliment erfahrener journalistischer Fahrensmann – TOP formuliert.
Das Outsourcing redaktioneller Verantwortung
Ebenso schließt sich eine weitere Frage an: Müssen Journalisten und gestandene Redaktionen in diesem Umfang ihre Leserschaft an der Übersättigung vorgeblicher „Studien“ partizipieren lassen, deren Aussagen außerhalb redaktionell verantworteter Überprüfung stehen, aber erkennbar in einem tendenziösen Kampagnen-Biotop erblühen? Was zum Beispiel haben die Welt-Leser davon, wenn am 8. Januar unter der Überschrift „Lebt man gesünder, wenn man nur Bio isst?“ ein Bericht von annähernd 10.000 Zeichen erscheint, der maßgeblich auf zweifelhaften Vermutungen nicht näher identifizierter französischer Wissenschaftler beruht?
Der Informationswert nach der angegebenen Lesedauer von sieben Minuten ist flüchtig, Lebenshilfe für Verbraucher gleich Null. Beim näheren Hinsehen erfährt man die Schaffensquelle in einer Mini-Unterzeile – ein übernommener Agenturbeitrag, unter anderem auch erschienen bei Greenpace-Magazin.de und Zeit Online.
Wie weit geht das Outsourcing der redaktionellen Qualitätssteuerung und -verantwortung bei solchen Zulieferungen quer durch die Bank? Und vor allem in welchem Umfang erfolgt die Verifizierung der ausgebreiteten Fakten, Namen, Zitate?
Mediendebatte, Medienkritik?
Professionelle Seriosität und Redlichkeit hatte vor einigen Monaten Verbandschef Christoph Minhoff im Sinne vorurteilsfreier Verbraucherinformation eingefordert – und hatte dafür einigen Gegenwind erfahren – unter anderem von Seiten des DJV-Vorsitzenden Frank Überall.
Der nun war einer der ersten, der „mit Betroffenheit auf den Betrugsfall beim Nachrichtenmagazin Spiegel“ reagierte. Der kollegiale Übeltäter habe „die Glaubwürdigkeit des Journalismus in den Dreck gezogen“, hieß es in einer Art Hoeneß-Sound. Ihm habe offensichtlich „jedes Verantwortungsgefühl für sein Blatt und die Leser gefehlt“.
In weiteren gewerkschaftlichen Äußerungen klingen aber inzwischen auch Töne durch, man dürfe die speziellen Fehlentwicklungen nicht zu laut thematisieren, weil dies der journalistischen Kritik „anderer“ nutze. Wie eine solche Einstellung (Haltung?) mit dem kategorischen Imperativ „Sagen, was ist“ in Einklang zu bringen ist, bleibt Funktionärsgeheimnis.
Am Ende des Tags könnte die Causa Spiegel über die Silvesterknallerei hinaus womöglich dann doch eine weitergehende Wende einleiten als nur die von einem Jahr auf das andere.
„Die Fakten sind heilig. Die Kommentare sind frei.“
Heinz Klaus Mertes ist als Medienproduzent, Berater und Autor für Verlage, Sender sowie Unternehmen und Verbände tätig und gehört verschiedenen Branchengremien an. Davor war er u.a. Programmdirektor von Sat.1, Fernseh-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks und Chefredakteur der „Versicherungswirtschaft“. In seiner Kolumne auf Filetspitzen.de schreibt er über aktuelle Tops, Flops und Trends in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft. Mertes ist Träger des Konrad Adenauer-Preises für Publizistik.