Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben. Die klassische Weisheit, was Bildung ist, sein soll und kann, stimmt noch immer. Gerade auch in Sachen Ernährung sind wir insgesamt eine lernende Gesellschaft, wie der mediale Informationshunger zu diesem Thema belegt. Und wer sind die Lehrer, die Vorbilder, die Richtungsgeber für die Erlangung persönlicher Mündigkeit inmitten eines Overkills an polarisierenden Positionen? Die berühmten Maîtres hoher Küchenkunst sind medial weithin blinkende Leuchttürme, immerhin wenigstens in alle Richtungen. Einseitige Unterrichtsmaterialien prägen da nachhaltiger – wie gesagt fürs Leben. Eine Einordnung samt modischer Provokation eines Schulstreiks für objektive Unterrichtsmaterialien in Sachen Ernährung von Heinz Klaus Mertes.
Die Leuchtkraft der Michelin-Sterne kann es auf dem Gebiet des Essens und Trinkens sogar fast mit den Hollywood-Oscars aufnehmen. Am 26. Februar 2019 war es in Berlin wieder soweit: Reichweitenstark aufgezogene Verleihungsshow der himmelhohen Dreiersterne und der darunter kreisenden Trabanten. Drumherum ein gewaltiger Kometenschweif an Medienberichterstattung auf der Suche nach den Trends, die auch bei den Cuisine-Normalos und Verbrauchern in den Lebensmittelmärkten Schule machen könnten. Ja, hier geht es auch um Absatz-Testimonials, also um mundgerechtes Business.
Küchenkunst schafft Identität und Standortattraktivität
Deutlich wird: Die Strahlkraft des Guides hat über den Glanz der Restaurants, Starköche und -köchinnen hinaus eine offenbar nicht zu unterschätzende Standortrelevanz. So wird lebhaft publizistisch promotet, in welcher Region, in welchen Städten und Landschaften die 309 Michelin-Geweihten zur höheren Attraktivität beitragen. Ein Google-Klick zu dem Suchwort „Michelin-Sterne 2019“ zeigt in mehr als 60 Links die stolze Freude der berichtenden Medienwelt über die Himmelskörper in ihrer Berichtsprovinz von Nord bis Süd, Ost und West. Ist ja auch eine wohltuende Abwechslung, einmal nicht zu medienpädagogischen Exerzitien des rechten Speisens und Trinkens angehalten zu werden, sondern sich einfach den Szenarios lustvollen Speisens hinzugeben – sogar mit heimatlich-patriotischem Feeling. Einmal mehr beweist sich: Die Kultur des Essens und Trinkens schafft gerade unter dem digitalen Himmel TOP-Identifikation – und ist wirtschaftsfördernd dazu.
Auch die Medien entdecken wieder mehr das „Bauchgefühl“
Einmal vom kulinarischen Hochsprungwettbewerb abgesehen: Welche Signale gehen von dieser Michelin-Gastro-Elite für die Ernährungsstile in vielfach umbrechenden Geschmacks- und Konsumwenden aus? Nun, viel Richtungweisendes ist nicht im Medienecho aufzuspüren für das Millionenheer suchender Ernährungsoptimierer. Die illustren Maîtres*innen marschieren zwar wie nie durch TV-Sendungen, Publikumspresse und Glanzmagazine, aber ihre Trend-Statements bleiben doch mehr im Ungefähren. Immerhin, könnte man sagen, laufen sie tendenziell fast auf eine Art „Reduktionsstrategie“ hinsichtlich der tausendfach gehandelten Lebenshilfen für eine gesunde, schmeckende und preisgerechte Ernährung hinaus. Mit wenigen Ausnahmen vermeiden Küchenpäpste die sonst kursierenden Dogmen zwischen Fleisch und Vegan, Soja und Vollmilch. Die prominenten Zubereiter führen überwiegend in medialen Bekundungen zurück auf das, worauf es ankommt – eine variantenreiche, ausgewogene, wohlschmeckende Ernährung nach Gusto und Eigenverantwortung moderner Menschen. – und ja, auch auf Tradition. Solches Downsizing tut ganz einfach gut, weil entspannend. Sogar das kopfgesteuerte Handelsblatt setzt „auf mehr Bauchgefühl und weniger Mantra“. Andere beispielhafte Veröffentlichungen jetzt im Kontext des nobligen Michelin-Rankings atmen den gleichen Geist.
Nun wäre es naiv anzunehmen, dass sich in diesem lukullischen Entspannungsbad rund um das Michelin-Entertainment der Frontverlauf in Sachen Ernährung, Lebensmittel und Konsumverhalten begradigt hätte. Im Gegenteil: Zu den wohl nie endenden aktivistischen Scharmützeln scheint nunmehr eine langfristig ernster zunehmende informative Indoktrinierung Platz zu greifen, nämlich bei den Unterrichtsmitteln an Deutschlands Schulen. Ein bedenkliches Fallbeispiel bietet dafür ausgerechnet der führende deutsche Schulbuchverlag der Westermann Gruppe.
Die programmlichen Abwege eines Schulbuchverlags
Für das in Produktion befindliche Schulbuch „Prüfungswissen Deutsch“ ist in kaum nachvollziehbarer Weise das Thema „Zuckersteuer“ als Lehrmaterial eingebucht. Als „didaktische“ Textgrundlage werden den Schülerinnen und Schülern einseitige und falsche Darstellungen von Foodwatch und weiteren aktivistischen Bündnissen samt deren politischen Forderungen an die Hand gegeben, die zur Erörterung des Themas „ Zuckersteuer auf Getränke in Deutschland“ dienen sollen. Differenzierende Erkenntnisse und divergierende Positionen etwa neutraler wissenschaftlicher Studien werden nicht angeführt. Lakonische Stellungnahme der Westermann-Redaktion zu diesem tendenziösen FLOP: „Die Ausrichtung unseres Lehrmaterials ist nicht im wissenschaftlichen, sondern immer im rein didaktischen Kontext zu verstehen.“
Man höre und schüttle den Kopf: Nihilismus als didaktisches Prinzip? Geht’s noch? Wie die Bildungsaufgabe eines kultusministeriell lizenzierten Schulbuchverlags eine argumentative, sachgerechte „Erörterung“ des Für und Wider bei ausschließlich einseitiger Info-Munitionierung möglich sein soll, bleibt das Geheimnis der lektorierenden Verlagspädagogen – vielleicht auch der Verantwortlichen ein paar Unternehmenstagen höher. Immerhin hat sich Westermann über das Verlegen von Schulbüchern hinaus unter dem Dachkonzern Medien Union in Ludwigshafen zu einem der größten Presseimperien Deutschlands entwickelt, wie das Manager Magazin nachzeichnet.
Gretchenfrage: Was ist das Bildungsziel Ernährung?
Es geht um nicht wenig, nämlich Haltung durch eine Bildung, die Souveränität – Mündigkeit! – in der Lebensorientierung junger Menschen fördern soll. Dazu gehören zweifelsfrei Ernährungsthemen. Defizite und Abirrungen wie die genannte sollten und können sich da wissensdurstige „Prüflinge“ nicht gefallen lassen. Mein in die Jetztzeit passender Vorschlag deshalb: „Schulstreik für ausgewogene Unterrichtsmaterialien“ und hinterher Besinnungsaufsätze darüber. Das läge im Trend und wäre ein spannendes „rein didaktisches“ Trainingsprogramm für die Prüfungsvorbereitung im Fach Deutsch (!?) – vielleicht auch in Medienkunde.
„Die Fakten sind heilig. Die Kommentare sind frei.“
Heinz Klaus Mertes ist als Medienproduzent, Berater und Autor für Verlage, Sender sowie Unternehmen und Verbände tätig und gehört verschiedenen Branchengremien an. Davor war er u.a. Programmdirektor von Sat.1, Fernseh-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks und Chefredakteur der „Versicherungswirtschaft“. In seiner Kolumne auf Filetspitzen.de schreibt er über aktuelle Tops, Flops und Trends in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft. Mertes ist Träger des Konrad Adenauer-Preises für Publizistik.